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Warum die Arbeiterlosigkeit immer noch unterschätzt wird

Liebe Fanny, als promovierte Psychologin leitest du das Ressort Karriere, Leben und Wissen bei Business Insider Deutschland und bist darüber hinaus als Host deines Podcasts „Zuhören, Karriere machen“ bekannt. Was fasziniert dich an deinem Job?

Ich liebe meinen Job, weil er mir ermöglicht, zwei Leidenschaften zu verbinden: Psychologie und Journalismus. Angefangen habe ich nach dem Studium in der Forschung – was spannend war, mir aber zu eindimensional. Ich wollte mich nicht drei Jahre lang auf ein Projekt und damit ein Thema festlegen. Und ich wollte schreiben, was für mich eine sehr konkrete, sinnliche Tätigkeit ist. Als Journalistin beschäftige ich mich mit vielen Themen gleichzeitig und beleuchte sie von unterschiedlichen Seiten. So habe ich nicht nur einen sehr guten Überblick über die Forschung, sondern kann deren Erkenntnisse kombinieren und auf aktuelle Geschehnisse anwenden. Gerade im Bereich Karriere gibt es da noch so viel zu tun. Hier spielen viele psychologische Phänomene eine Rolle, die bisher noch gar nicht oder nur wenig beleuchtet worden sind. Menschen sind faszinierende Wesen. Zu verstehen, warum sie tun, was sie tun, treibt mich jeden Tag an.

Berufsbedingt wirst du regelmäßig mit Arbeitsmarktthemen konfrontiert. Wie bewertest du die derzeitige Situation auf dem Arbeitsmarkt und wie nimmst du die gegenwärtige Arbeiterlosigkeit wahr?

Die angespannte wirtschaftliche Lage derzeit macht sich auch als Vorsicht auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Ich nehme das wie eine Atempause wahr. Denn am langfristigen Trend und den damit verbundenen Herausforderungen wird es nichts ändern. Der Fachkräftemangel ist aus meiner Sicht immer noch massiv unterschätzt in der Tragweite, die er in den kommenden Jahren haben wird – und den Schritten, die in der Konsequenz nötig sein werden, um gut mit ihm leben zu können. Mein Eindruck ist: Viele haben rational verstanden, was da in den kommenden Jahren auf uns zukommt, sie haben die Zahlen und Kurven dazu gesehen, gestaunt und gedacht: Oha, das sieht ja nicht gut aus. Aber es ist noch nicht in ihrer Erfahrungswelt angekommen und damit nicht in ihrer emotionalen Wirklichkeit. Und Menschen handeln nicht aus reiner Rationalität heraus – auch wenn sie das gern behaupten –, sondern nur dann, wenn es ein emotionales Backup gibt. Auch die rationalste Entscheidung wird nur getroffen, wenn ein Gefühl dahintersteht. Das erklärt, warum bisher aus meiner Sicht recht wenig passiert ist, gesamtgesellschaftlich. Wir müssen verstehen: Es wird massiv zu wenig Menschen geben, die arbeiten können. Und ja, das kann im Kleinen heißen, dass wir die, die da sind, besser qualifizieren, schneller integrieren, länger im Job halten. Aber im Großen heißt es vor allem, die Arbeit selbst umzustrukturieren, Arbeit umzuverteilen, viel zu digitalisieren. Dieses Bewusstsein fehlt mir noch derzeit.

Die demografische Entwicklung ist eigentlich keine neue Erkenntnis. Dennoch war die Arbeiterlosigkeit für viele Unternehmen gar nicht so vorhersehbar. Welche Zusammenhänge kannst du als Psychologin herstellen?

Der Fachkräftemangel war nicht nur für Unternehmen nicht so vorhersehbar, sondern auch für die Entscheidungsträger in der Politik. Man könnte sogar sagen: Er war für niemanden in dieser Dimension genau so vorhersehbar. Wenn uns Entwicklungen in der Rückschau so logisch und vorhersehbar erscheinen, dass wir sagen: „Es war doch klar, dass das so kommen musste“, dann unterliegen wir einer kognitiven Verzerrung, die sich in der Psychologie „Hindsight Bias“ nennt. Wir neigen nämlich hinterher dazu, zu überschätzen, wie vorhersehbar eine Entwicklung war. Wir erinnern uns systematisch falsch, welche Informationen zu welchem Zeitpunkt wem genau vorlagen. Es stimmt, die demografische Entwicklung ist keine neue Erkenntnis. Vor zwanzig Jahren wussten das aber vor allem Wissenschaftler und Vordenker – und damit fehlte in Unternehmen das Erleben, was das für ihr Recruiting bedeutet, für ihre Entwicklungsperspektive und letztlich für ihren Umsatz. Das haben sie erst später erfahren. Zuerst die Unternehmen, die viele IT-Kräfte brauchten, danach auch alle anderen. Und erst dann wurden sie aktiv.

Die Arbeiterlosigkeit kann für Unternehmen auch eine Chance darstellen. Die Integration ausländischer Mitarbeiter*innen gilt hierbei als ein wichtiger Lösungsansatz. Welche Chancen siehst du im Zusammenhang mit der Arbeiterlosigkeit und welchen Wandel müssen Unternehmen durchlaufen?

Ich glaube, dass der Blick der Unternehmen offener wird, weil er offener werden muss. Und davon können alle profitieren. Mit „offen“ versuche ich das etwas überstrapazierte Wort Diversität zu vermeiden, weil darunter gern jede und jeder versteht, was er oder sie verstehen will. Mit offen meine ich, dass Unternehmen beginnen, im Recruiting die Wirklichkeit abzubilden – und alle im arbeitsfähigen Alter mit einzuschließen: von Geflüchteten über Menschen mit Einschränkungen und jene, die man bislang für zu jung oder für zu alt gehalten hat, um Unternehmen voranzubringen, bis hin zu Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen oder schlicht Lebensentwürfe haben, die anderen ungewöhnlich erscheinen. Unternehmen werden es sich künftig nicht mehr leisten können, Personal nur nach dem psychologischen Prinzip der Ähnlichkeit zu rekrutieren, das lange vorgeherrscht hat: dass man also Menschen einstellt, die so ähnlich ticken wie man selbst. Das ist zwar menschlich, aber für Unternehmen erstens unproduktiv, weil diverse Teams besser performen, und zweitens mit der Realität des Fachkräftemangels schlicht nicht vereinbar.

Dr. Fanny Jimenez

Über Dr. Fanny Jimenez
Dr. Fanny Jimenez studierte Psychologie und Neurowissenschaften in Berlin und den USA, bevor sie im Rahmen der International Max Planck Research School an der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte. Ihre Schwerpunkte dabei waren die Psychologie der Persönlichkeit und soziale Beziehungen. Seit 2020 leitet sie das Ressort Karriere, Leben und Wissen bei Business Insider. Sie hat zuvor unter anderem frei für den Stern, Deutschlandfunk, Spektrum, Gehirn & Geist sowie Psychologie heute gearbeitet und war mehrere Jahre lang Redakteurin im Ressort Wissen bei der Welt/Welt am Sonntag.

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